"Kurz vor sechs trottete Pierre zum Dorfplatz von Etchebar hinunter; die kumulative Wirkung seiner gleichmäßig über den Tag verteilten Schoppen hatte ihn inzwischen so weit von der Tyrannei der Schwerkraft befreit, daß er halb gleitend, halb schwebend in Richtung Volvo zu navigieren vermochte. Er sollte zwei Ensembles abholen, die Hana telefonisch bestellt hatte, nachdem sie Hannah nach ihrer Kleider-
größe gefragt und sie in europäische Maße umgerechnet hatte. Und außer den Kleidern sollte Pierre dann noch drei Dinnergäste aus dem Hotel
Dabadie abholen. Nachdem er den Türgriff zweimal verfehlt hatte, zog Pierre seine Baskenmütze tiefer in die Stirn und konzentrierte
seine gesamte Aufmerksamkeit auf die nicht unbeträchtliche Aufgabe, in den Wagen zu steigen, was ihm zuletzt auch tatsächlich
gelang. Doch da fiel ihm plötzlich ein, daß er etwas vergessen hatte. Er schlug sich an die Stirn, stieg umständlich wieder aus,
versetzte dem hinteren Kotflügel, M'sieur Hels Ritual imitierend, einen kräftigen Tritt und zwängte sich auf den Fahrersitz zurück.
Bei seinem angeborenen, typisch baskischen Mißtrauen allem Technischen gegenüber beschränkte Pierre den Gebrauch der Gänge stets auf
den ersten und den Rückwärtsgang und fuhr grundsätzlich mit gezogenem Choke, wobei er die ganze Straßenbreite samt beiden Rändern beanspruchte.
Vereinzelte Schafe, Kühe, Menschen und wacklige Solex-Mopeds, die unerwartet vor seiner Stoßstange auftauchten, verschonte er, indem er das Lenkrad
scharf herumriß und sich dann, ganz auf sein Gefühl vertrauend, zur Straßenmitte zurücktastete. Von der verweichlichenden Einrichtung der Fußbremse
hielt er nicht viel, und auch die Handbremse betrachtete er ausschließlich als Instrument zum Parken. Da er stets anhielt, ohne die Kupplung zu treten,
ersparte er sich die Mühe, den Motor abzustellen, der jedesmal, wenn er sein Ziel erreicht hatte und den Bremshebel anzog, fürchterlich bockte und
abgewürgt wurde. Zum Glück für die Bauern und die Dorfbewohner zwischen dem Chäteau und Tardets eilte dem Alten der Lärm, den das Klappern und
Rattern der verbeulten Volvokarosserie machte, einen halben Kilometer voraus, so daß den meisten noch Zeit genug blieb, sich schnell hinter einen
Baum zu retten oder über eine Steinmauer zu setzen. Pierre empfand einen gerechtfertigten Stolz auf seine Fahrkünste, denn noch nie hatte er einen
Unfall gebaut. Und das war um so löblicher, als er doch immer wieder rücksichtslosen und leichtsinnigen Fahrern begegnete, die er beobachtete, wie
sie im Graben oder auf dem Trottoir landeten oder sich ineinander verkeilten, während er mit überlegener Miene bei Rotlicht durchfuhr oder
Einbahnstraßen in der verkehrten Richtung benutzte. Aber es war weniger die ungeschickte Waghalsigkeit der anderen Fahrer, die Pierre so störte,
als vielmehr deren Unverschämtheit ihm gegenüber, denn häufig riefen sie ihm vulgäre Dinge nach, und er konnte schon nicht mehr zählen,
wie oft er im Rückspiegel einen Finger, eine Faust oder sogar einen ganzen Unterarm gesehen hatte, die ihm voller Wut die figue zeigten.
Pierre brachte den Volvo bockend und hustend auf der Mitte des Marktplatzes von Tardets zum Stehen und kletterte mühsam hinter dem Lenkrad hervor.
Nachdem er sich den Zeh an der verbeulten Tür wundgestoßen hatte, begab er sich auf seine Botengänge, freilich nicht ohne zuvor mit alten Freunden
gemütlich ein Gläschen geleert zu haben.
Niemand fand es verwunderlich, daß Pierre dem Wagen beim Ein- und Aussteigen jeweils einen Schlag oder Tritt versetzte, denn Volvodreschen
war im südwestlichen Frankreich inzwischen zu einer allgemein geübten Sitte geworden, die mitunter sogar in so weit entfernten Orten wie etwa
Paris gepflegt wurde. Ja, von Touristen in die kosmopolitischen Zentren der ganzen Welt getragen, entwickelte Volvodreschen sich allmählich zu
einem richtigen Kult, und das freute Nikolai Hei, denn er hatte damit angefangen.
Vor einigen Jahren, als er für das Chäteau einen Allzweckwagen suchte, hatte Hei den Rat eines Freundes befolgt und sich einen Volvo zugelegt,
weil er meinte, ein so teurer und dabei so häßlicher, so unbequemer, so lahmer und so viel Benzin schluckender Wagen müßte zum Ausgleich dafür
bestimmt andere Vorzüge besitzen. Und tatsächlich wurde ihm versichert, diese Vorzüge seien Widerstandsfähigkeit und guter Service.
Sein Kampf gegen den Rost begann am dritten Tag; und viele kleine Konstruktions-, Design- und Einrichtungsfehler (falsch gefluchtete Räder,
durch die seine Reifen nach fünftausend Kilometern abgefahren waren, ein Scheibenwischer, der peinlichst jeden Kontakt mit dem Glas vermied,
ein Kofferraumschloß, das man mit beiden Händen betätigen mußte, so daß das Ein-und Ausladen zu einer Burlesque ungeschickter Bewegungen wurde)
erforderten ständige Besuche bei dem einhundertfünfzig Kilometer entfernt wohnenden Händler. Nach dessen Ansicht allerdings hatte sich der Hersteller
um diese Probleme zu kümmern, nach Meinung des Herstellers wiederum lag die Verantwortung beim Händler. Und so beschloß Nikolai,
nachdem er monatelang höfliche, doch vage Briefe desinteressierten Bedauerns von der Firma erhalten hatte, in den sauren Apfel zu beißen und den
Wagen für den strapaziösen Transport von Schafen oder für das Bugsieren von Ausrüstungsgegenständen über steile holprige Bergpfade einzusetzen,
in der Hoffnung, die Karre werde dann bald auseinanderfallen und den Erwerb
eines Fahrzeugs mit einer verläßlicheren Service-Infrastruktur rechtfertigen.
Aber leider hatte sich zwar der Ruf der Firma für guten Service als falsch erwiesen, der Ruf des Wagens, widerstandsfähig zu sein, schien jedoch
berechtigt, denn wenn er auch schlecht lief, so lief er jedenfalls unentwegt. Unter anderen Umständen hätte Hei Widerstandsfähigkeit als Vorzug
einer Maschine betrachtet und geschätzt; doch in der Aussicht, daß nun seine Probleme noch jahrelang weiterzugehen drohten, fand er keirien Trost.
Als er daher einmal Pierres Kunstfertigkeit als Chauffeur erlebt hatte, gedachte Hei die Marter abzukürzen; indem er Pierre gestattete,
den Wagen zu fahren, wann immer er wollte. Aber auch dieser Plan schlug fehl, weil ein ironisches Schicksal den guten Pierre
vor jedem Unfall bewahrte. Und so lernte Hei seinen Volvo allmählich als eine der eher komischen Bürden des Lebens zu akzeptieren,
gestattete es sich jedoch, seiner Frustration dadurch Ausdruck zu verleihen, daß er dem Wagen beim Ein- und Aussteigen jedesmal einen
Tritt oder einen Fausthieb versetzte.
Es dauerte nicht lange, und seine Höhlenforscherfreunde begannen ebenfalls seinen Volvo zu treten, wenn sie an ihm vorbeikamen -zuerst aus Spaß,
dann aus Gewohnheit. Binnen kurzem versetzten sie und ihre Kameraden sogar einem jeden Volvo, den sie passierten, einen Schlag. Und mit der Unlogik
aller Modetorheiten begann sich das Volvodreschen überallhin auszubreiten - hier in Gestalt eines Protests gegen das Establishment,
dort als Ausdruck jugendlichen Übermuts, hier als Symbol des Antimaterialismus, dort als Manifestation des Insidertums.
Sogar Besitzer anderer Volvos begannen die Dreschmaschine zu tolerieren, denn das bewies, daß sie sich in den Kreisen der international Geschulten
bewegten. Und es gab Volvobesitzer, die insgeheim ihre eigenen Wagen verbeulten, um sich ganz unverdient den Ruf des Kosmopoliten
zu verschaffen. Es liefen außerdem hartnäckige, wenn auch vermutlich unzutreffende Gerüchte um, nach denen Volvo plante, ein
vorverbeultes Modell auf den Markt zu bringen, um die Smartsetter für ein Automobil zu gewinnen, das alle anderen Vorzüge der Sicherheit
der Passagiere geopfert hatte (obwohl bei vielen Modellen noch Firestone-500-Reifen verwendet wurden) und das sich vor allem an jene wohlhabenden
Egozentriker wandte, die meinten, die Erhaltung ihres Lebens sei für das Schicksal der Menschheit von ausschlaggebender Bedeutung."
Aus: Trevanian. Shibumi oder der leise Tod. (Seite 320-323)
Danke Notker!